DIE
PROLETARISCHE KUNST DES SOZIALISTISCHEN AUFSTANDES
Das
Militärprogramm
der
proletarischen Revolution
WLADIMIR I.
LENIN
Konzeption und Organisation
Sammlung, Revision und neue Veröffentlichung
Rochel von Gennevilliers &
Aníbal Cienfuegos
Dezembro 2004
Aus der Mitte der
revolutionären Sozialdemokraten, die gegen die Lüge der Sozialchauvinisten von
der „Vaterlandesverteidigung" in
diesem imperialistischen Kriege kämpfen, hört man in Holland, Skandinavien, in der Schweiz
die Stimmen, man solle den alten Punkt des sozialdemokratischen Minimalprogramms: „Miliz"
oder „Volkbewaffnung"
durch einen neuen ersetzen: „Entwaffnung"[1].
Die
„Jugend-Internationale"
eröffnete die Diskussion über diese Frage und brachte
in Nr. 3 einen redaktionellen Artikel für
die Entwaffnung. In den neuesten Thesen des Genossen R.
Grimm ist leider auch eine Konzession der Entwaffnungsidee gemacht
worden. In den Revuen „Neues
Leben" und „Vorbote"
ist die Diskussion eröffnet. Wir wollen die Argumente der Entwaffnungsanhänger
untersuchen.
1.
Das grundlegende Argument besteht darin, die
Forderung
der
Entwaffnung sei der klarste, entschiedenste, konsequenteste Ausdruck des
Kampfes gegen jeden Militarismus und gegen
jeden Krieg. In diesem grundlegenden
Argument besteht eben der Grundirrtum
der Entwaffnungsanhänger.
Die Sozialisten können
nicht gegen jeden Krieg sein, ohne aufzuhören, Sozialisten zu sein.
Erstens waren die Sozialisten niemals und können niemals Gegner revolutionärer Kriege sein. Die
Bourgeoisie der „großen"
imperialistischen Mächte ist durch und durch reaktionär geworden, und wir
erkennen den Krieg, den diese Bourgeoisie jetzt führt, für einen reaktionären, sklavenhälterischen, verbrecherischen Krieg an. Nun, wie
steht es aber mit einem Kriege
gegen diese Bourgeoisie? Zum Beispiel mit einem Kriege der von dieser Bourgeoisie
unterdrückten, von
ihr abhängigen oder kolonialen Völker für ihre Befreiung?
In
den
„Leitsätzen" der Gruppe „Internationale" lesen wir in Paragraph 5:
„In
der Ära dieses entfesselten Imperialismus
kann es keine nationalen Kriege mehr gelten."
Das
ist offenbar unrichtig.
Die Geschichte des 20. Jahrhunderts, dieses
Jahrhunderts des „entfesselten
Imperialismus",
ist voll von Kolonialkriegen. Aber
das, was wir Europäer, imperialistische Unterdrücker der Mehrzahl der Völker der Welt, mit uns
eigentümlichen niederträchtigem europäischem
Chauvinismus „Kolonialkriege" nennen, das sind oft nationale Kriege oder nationale Aufstände von selten dieser unterdrückten Völker. Eine der grundlegendsten Eigenschaften des
Imperialismus besteht darin,
dass er die Entwicklung des Kapitalismus in den rückständigsten Ländern beschleunigt und dadurch
den Kampf gegen die nationale
Unterdrückung ausbreitet und verschärft. Das
ist Tatsache. Und daraus folgt unvermeidlich, dass der Imperialismus nationale Kriege öfters
erzeugen muss.
Junius,
(CRvG.: d.h. Rosa
Luxemburg) der
in seiner Broschüre die genannten „Leitsätze" verteidigt, sagt, in der imperialistischen Epoche führe
jeder nationale Krieg
gegen eine von den imperialistischen Großmächten zum Eingreifen einer anderen, mit der ersten
konkurrierenden, auch
imperialistischen Großmacht und dadurch werde jeder nationale
Krieg in einen imperialistischen verwandelt. Dieses Argument ist aber auch unrichtig. Es kann so
sein, es ist aber nicht immer so.
Mehrere
Kolonialkriege
in den Jahren 1900 bis 1914 gingen nicht
diesen Weg. Und es wäre einfach lächerlich, wenn wir
erklärten, dass z. B. nach dem jetzigen Kriege, wenn er mit der äußersten
Erschöpfung der kriegführenden Länder
endigt, es „keinen" nationalen, fortschrittlichen, revolutionären Krieg meinetwegen seitens Chinas im Bunde mit Indien, Persien. Siam
usw. gegen die Großmächte geben
„kann".
Die Verneinung jeder Möglichkeit nationaler Kriege unter dem Imperialismus ist theoretisch unrichtig,
historisch offenbar falsch, praktisch gleicht sie dem europäischen Chauvinismus: wir, die wir zu den Nationen gehören, die hunderte Millionen Völker in Europa, Afrika,
Asien
usw. unterdrücken, wir sollen
den unterdrückten
Völkern erklären, ihr Krieg
gegen „unsere"
Nationen
sei „unmöglich"!
Zweitens. Bürgerkriege sind auch Kriege. Wer den Klassenkampf anerkennt, der kann nicht
umhin, auch Bürgerkriege anzuerkennen, die in jeder Klassengesellschaft
eine natürliche, unter gewissen
Umständen unvermeidliche Weiterführung,
Entwicklung und Verschärfung des Klassenkampfes darstellen. Alle großen Revolutionen bestätigen das. Bürgerkriege zu verneinen oder zu vergessen, hieße in den äußersten Opportunismus verfallen und auf die
sozialistische Revolution verzichten.
Drittens schließt der in einem Lande siegreiche Sozialismus keineswegs mit einem Male alle Kriege
überhaupt aus. Im Gegenteil, er setzt
solche voraus. Die Entwicklung des Kapitalismus
geht höchst ungleichmäßig in verschiedenen Ländern
vor sich. Das kann nicht anders sein bei der Warenproduktion. Daraus die unvermeidliche Schlussfolgerung: der Sozialismus kann nicht gleichzeitig in allen Ländern siegen.
Er
wird zuerst in einem oder einigen Ländern siegen, andere werden für eine gewisse Zeit bürgerlich oder
vorbürgerlich bleiben. Das muss nicht nur
Reibungen, sondern auch direktes Streben
der Bourgeoisie anderer Länder erzeugen, das siegreiche Proletariat des sozialistischen
Staates zu zerschmettern. In solchen Fällen wäre ein Krieg unsererseits legitim
und gerecht, es wäre ein Krieg
für den Sozialismus, für die Befreiung anderer Völker von der
Bourgeoisie.
Engels hatte vollständig recht, als er in seinem Briefe an Kautsky vom 12.
September 1882 ausdrücklich die Möglichkeit der „Verteidigungskriege" des Sozialismus, der schon gesiegt hat, anerkannte.
Er meinte nämlich die Verteidigung des siegreichen Proletariats gegen die Bourgeoisie anderer
Länder.
Erst nachdem wir, die Bourgeoisie in der ganzen Welt, und nicht nur in einem Lande niedergeworfen,
vollständig besiegt und expropriiert haben, werden die Kriege unmöglich werden. Und es ist wissenschaftlich gar nicht
richtig — und gar nicht revolutionär
—, wenn wir eben das Wichtigste, die Niederwerfung
des Widerstandes der Bourgeoisie, das Schwierigste,
das am meisten den Kampf fordernde im Übergänge zum Sozialismus
umgehen oder vertuschen.
Die
„sozialen" Pfaffen und die Opportunisten
sind gerne bereit, von dem zukünftigen
friedlichen Sozialismus zu träumen, sie unterscheiden sich aber von den revolutionären Sozialdemokraten
eben dadurch, dass
sie von erbitterten Klassenkämpfen und
Klassenkriegen, um diese schöne Zukunft zur
Wirklichkeit zu machen, nicht denken
und sorgen wollen.
Wir dürfen
uns nicht durch Worte täuschen lassen. Zum Beispiel ist der Begriff „Vaterlandsverteidigung"
manchem verhasst, weil dadurch die
offenen Opportunisten und die Kautskyaner die
Lüge der Bourgeoisie im gegebenen Räuberkriege
verdecken und vertuschen. Das ist Tatsache. Aber daraus folgt nicht, dass wir verlernen sollen, über die
Bedeutung der politischen
Schlagworte nachzudenken.
,,
Vaterlandsverteidigung" im gegebenen Kriege anerkennen, heißt diesen
Krieg für einen „gerechten", dem
Interesse des Proletariats dienstlichen
halten, weiter nichts und abermals nichts. Dran Invasion ist in keinem Kriege
ausgeschlossen. Es wäre einfach dumm,
„Vaterlandsverteidigung"
seitens unterdrückter Völker in ihrem Kriege gegen die imperialistischen Großmächte oder seitens des siegreichen Proletariats
in seinem Kriege gegen irgend einen Galliffet
eines bürgerlichen Landes aberkennen
zu wollen.
Es wäre
theoretisch grundfalsch, zu vergessen, dass jeder Krieg
nur die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist: der
jetzige imperialistische Krieg ist die Fortsetzung der imperialistischen Politik zweier Gruppen von
Großmächten und diese
Politik wurde durch die Gesamtheit der Verhältnisse der imperialistischen Epoche erzeugt und
genährt.
Aber
dieselbe Epoche muss notwendig die
Politik des Kampfes gegen nationale
Unterdrückung und des Kampfes des Proletariats gegen die Bourgeoisie erzeugen
und daher die Möglichkeit und die Unvermeidlichkeit
erstens der revolutionären nationalen Aufstände
und Kriege, zweitens der Kriege und Aufstände dies Proletariats gegen die Bourgeoisie, drittens der Vereinigung beider Arten von revolutionären Kriegen usw.
2.
Dazu kommt noch eine weitere allgemeine Erwägung. Eine
unterdrückte Klasse, die nicht danach strebt, die Waffenkenntnis zu gewinnen,
in Waffen geübt zu werden, Waffen zu besitzen,
eine solche unterdrückte Klasse ist nur wert, unterdrückt, misshandelt und als Sklave behandelt
zu werden.
Wir
dürfen, ohne uns zu
bürgerlichen Pazifisten und Opportunisten
zu degradieren, nicht vergessen, dass wir in einer Klassengesellschaft leben und dass außer dem
Klassenkampfe keine Rettung daraus möglich und denkbar ist. In jeder
Klassengesellschaft, sie möge auf der Sklaverei, Leibeigenschaft oder, wie
heute, auf der Lohnsklaverei beruhen, ist die unterdrückende Klasse bewaffnet.
Nicht
nur das heutige stehende Heer, sondern auch die heutige Miliz, die
schweizerische auch nicht ausgenommen, ist Bewaffnung der Bourgeoisie gegen
das Proletariat. Ich glaube, diese elementare Wahrheit nicht beweisen brauchen;
es genügt Militäraufgebote während des Streiks in allen kapitalistischen
Ländern zu erwähnen.
Die
Bewaffnung der Bourgeoisie gegen das Proletariat ist eine der größten,
kardinalsten, wichtigsten Tatsachen der heutigen kapitalistischen Gesellschaft.
Und angesichts dieser Tatsache will man den revolutionären Sozialdemokraten
zumuten, sie sollen die „Forderung“ der „Entwaffnung“
aufstellen!
Das
wäre eine vollständige Preisgabe des Klassenkampfstandpunktes und jedes
Gedankens an die Revolution.
Wir
sagen : Bewaffnung des Proletariats zum Zwecke, die Bourgeoisie zu
besiegen, zu expropriieren und zu entwaffnen – das ist die einzig mögliche
Taktik der revolutionären Klasse, eine Taktik, die durch die ganze objektive Entwicklung
des kapitalistischen Militarismus vorbereitet, fundiert und gelehrt
wird.
Nur
nachdem
das Proletariat die Bourgeoisie entwaffnet hat, kann es, ohne an seiner
weltgeschichtlichen Aufgabe Verrat zu üben, die Waffen zum alten Eisen werfen,
was es auch ganz sicher dann – aber nicht früher – tun wird.
Und
wenn der heutige Krieg in reaktionären Sozialpfaffen, in weinerlichen
Kleinbürgern nur Schrecken, nur Erschrockenheit, nur Abscheu vor
Waffengebrauch, Tod, Blut usw. erzeugt, so sagen wir dagegen: die
kapitalistische Gesellschaft war und ist immer ein Schrecken ohne Ende.
Und
wenn jetzt dieser Gesellschaft durch diesen reaktionärsten aller Kriege ein Ende
mit Schrecken vorbereitet wird, so haben wir keinen Grund, zu
verzweifeln.
Nichts
anderes als Ausfluss der Verzweiflung ist objektiv die Predigt, die „Forderung“
– besser zu sagen: der Traum von der „Entwaffnung“ in jetziger
Zeit, wenn offenbar vor aller Augen der einzig legitime und revolutionäre Krieg,
der Bürgerkrieg gegen die imperialistische Bourgeoisie durch diese
Bourgeoisie selber vorbereitet wird.
Wer
das für eine „graue Theorie“, „bloße Theorie“ hält, den erinnern wir an zwei
weltgeschichtliche Tatsachen: an
die Rolle der Trusts und der Fabrikarbeit der Frauen einerseits,
an die Pariser Kommune 1871 und Dezembertage 1905 in Russland anderseits.
Es ist die Sache der Bourgeoisie,
die Trusts zu fördern. Kinder
und Frauen in die Fabriken zu jagen, sie
dort zu martern, zu korrumpieren, unsäglichem Elend
preiszugeben.
Wir “unterstützen" diese
Entwicklung nicht, wir „fordern" so was nicht, wir kämpfen dagegen.
Aber wie kämpfen wir?
Wir erklären,
die Trusts und die Fabrikarbeit der Frauen sind progressiv.
Wir wollen nicht zurück, zum Handwerk, zum vormonopolistischen Kapitalismus, zur
Hausarbeit der Frauen. Vorwärts über die Trusts usw. hinaus und
durch sie zum Sozialismus.
Das gleiche gilt, mutatis mutandis, von der heutigen
Militarisierung des Volkes.
Heute militarisiert die imperialistische — und andere —
Bourgeoisie nicht nur das ganze Volk, sondern auch die Jugend. Morgen wird sie
meinetwegen die Frauen militarisieren. Wir
antworten darauf: desto besser!
Nur immer schneller voran
— je schneller, desto näher dem bewaffneten
Aufstande gegen den Kapitalismus.
Wie
können sich die Sozialdemokraten
durch die Militarisierung der Jugend usw. einschüchtern oder entmutigen
lassen, wenn sie das
Beispiel der Kommune nicht vergessen.
Es ist doch keine „Theorie", kein Traum, sondern Tatsache. Und es wäre
wirklich zum Verzweifeln, wenn die
Sozialdemokraten aller ökonomischen und politischen Tatsachen zum
Trotz daran zu zweifeln
begännen, dass die imperialistische
Epoche und die imperialistischen Kriege naturnotwendig,
unvermeidlich zur Wiederholung dieser
Tatsachen führen müssen.
Es war ein bürgerlicher Beobachter der Pariser Kommune, der im Mai 1871 in einer
englischen Zeitung schrieb:
„Wenn
die französische Nation nur aus
Frauen bestände, was wäre das für eine schreckliche Nation."
Die
Frauen und die Jugend vom 10. Jahr an kämpften während der Pariser Kommune neben den
Männern,
und es wird nicht anders sein in kommenden Kämpfen um die Niederwerfung der Bourgeoisie.
Die
proletarischen Frauen werden nicht passiv zusehen, wie die gut bewaffnete Bourgeoisie die schlecht bewaffneten oder gar nicht bewaffneten Proletarier
niederschießt, sie werden wieder, wie 1871, zu den Waffen greifen, und aus der heutigen
„erschrockenen" oder entmutigten
Nation — richtiger: aus der heutigen, durch die Opportunisten mehr als durch die Regierungen
desorganisierten Arbeiterbewegung – wird ganz sicher, früher oder später, aber
ganz sicher, ein internationaler Bund „schrecklicher Nationen“ des revolutionären
Proletariats erstehen.
Jetzt
durchdringt die Militarisierung das ganze öffentliche Leben.
Die
Militarisierung wird alles.
Der
Imperialismus ist erbitterter Kampf der Großmächte um Teilung und Neuteilung
der Welt, - er muss daher zur weiteren Militarisierung in allen, auch in kleinen,
auch in neutralen Ländern führen.
Was
sollen dagegen die proletarischen Frauen tun? Nur jeden Krieg und alles
Militärische verwünschen, nur die Entwaffnung fordern? Niemals werden sich die
Frauen einer unterdrückten Klasse, die revolutionär ist, auf solche schändliche
Rolle bescheiden. Sie werden vielmehr ihren Söhnen sagen:
„Du
wirst bald groß sein, man wird Dir das Gewehr geben.
Nimm
es und erlerne gut alles Militärische – das ist nötig für die Proletarier,
nicht um gegen Deine Brüder zu schießen, wie es jetzt in diesem Räuberkriege
geschieht und wie Dir die Verräter des Sozialismus raten, sondern um gegen die
Bourgeoisie Deines „eigenen“ Landes zu kämpfen, um der Ausbeutung, dem Elend
und den Kriegen nicht durch fromme Wünsche, sondern durch das Besiegen der
Bourgeoisie und deren Entwaffnung ein Ende zu bereiten.“
Wenn man nicht eine solche Propaganda und eben eine solche im
Zusammenhange mit dem jetzigen Kriege treiben will,
dann höre man gefälligst auf,
große Worte von der internationalen
revolutionären Sozialdemokratie, von der sozialen Revolution, von dem Kriege
gegen den Krieg im Munde zu führen.
3.
Die Anhänger
der Entwaffnung sind gegen die Volksbewaffnung unter anderem auch deshalb, weil die letztere Forderung
zu Konzessionen an den Opportunismus leichter
führen soll.
Wir haben das Wichtigste
untersucht: das Verhältnis der Entwaffnung
zum Klassenkampfe und zu der sozialen Revolution. Jetzt wollen wir die Frage
von dem Verhältnis zum Opportunismus untersuchen.
Einer der wichtigsten
Gründe der Unannehmbarkeit der Forderung der Entwaffnung besteht
eben darin, dass durch diese Forderung und
die dadurch unvermeidlich zu
erweckenden Illusionen unser Kampf gegen den Opportunismus geschwächt
und entkräftet wird.
Kein Zweifel, dieser Kampf steht auf der Tagesordnung in der Internationale.
Der Kampf gegen den Imperialismus, wenn dieser Kampf nicht unzertrennlich tritt dem Kampfe gegen
den Opportunismus verbunden ist, ist hohle Phrase oder ein Betrug.
Einer
der Hauptfehler von Zimmerwald und
Kienthal und eine der Hauptursachen des möglichen
Fiaskos dieser Keime der III Internationale
bestehen eben darin, dass die Frage vom Kampfe gegen den Opportunismus nicht
offen gestellt worden ist, — geschweige denn entschieden im Sinne des unvermeidlichen Bruches mit den
Opportunisten.
Der Opportunismus hat —
für eine gewisse Zeit — gesiegt in der
europäischen Arbeiterbewegung. In allen
größerem Ländern bildeten sich zwei Hauptschattierungen desselben: erstens der offene, zynische und darum weniger
gefährliche Sozialimperialismus, der
Plechanows,
Scheidemänner, Legiens usw.,
Albert
Thomas und Marcel Sembat, Vandervelde, Hyndmans, Henderson usw.; zweitens der verdeckte kautskyanische:
Kautsky-Haase und „Sozialdemokratische
Arbeitsgemeinschaft" in Deutschland, Longuet,
Pressmane, Mayeras usw. in Frankreich, Ramsay Macdonald und
andere Führer der „Unabhängigen Arbeiterpartei" in England, Martow, Tscheidse usw. in
Russland, Treves und andere so genannte linke Reformisten in Italien.
Der offene Opportunismus arbeitet offen und
direkt gegen die Revolution und gegen die beginnenden revolutionären Bewegungen
und Ausbrüche, im direkten Bunde mit den Regierungen, mögen die Formen dieses
Bündnisses verschieden sein: von einer Teilnahme an der Regierung an bis zur Teilnahme
an Kriegsindustriekomitees
(in Russland).
Die
verdeckten Opportunisten, die Kautskyaner, sind für die
Arbeiterbewegung viel schädlicher und
gefährlicher, weil sie ihre Verteidigung
des Bundes und der „Einigkeit" mit den ersteren durch wohlklingende „marxistische" Worte und „Friedenslosungen" verdecken und plausibel machen.
Der
Kampf gegen beide Formen
des herrschenden Opportunismus kann nur auf allen Gebieten der proletarischen Politik geführt werden: parlamentarische Tätigkeit, Gewerkschaften,
Streiks, Wahrsagen usw.
Die
Haupteigentümlichkeit aber, die beide Formen
des herrschenden Opportunismus auszeichnet, besteht darin, dass man die konkreten Fragen der
Revolution und die allgemeine Frage vom
Zusammenhange des jetzigen Krieges mit der Revolution verschweigt, vertuscht oder im Polizeisinne „beantwortet".
Und
das — nachdem man unmittelbar vor diesem Kriege
unzählige Male unoffiziell und im Basler Manifest offiziell
ganz unzweideutig auf den Zusammenhang eben dieses kommenden
Krieges mit der proletarischen Revolution hingewiesen hatte!
Und der Hauptfehler der Forderung der Entwaffnung
ist auch der, dass
alle konkreten Fragen der Revolution
dadurch umgangen werden.
Oder
sind etwa die Entwaffnungsanhänger
für eine
ganz neue Art entwaffneter Revolution?
Weiter. Wir sind absolut nicht gegen den
Kampf um Reformen.
Wir wollen nicht die unangenehme Möglichkeit ignorieren, dass die Menschheit im schlimmsten
Falle noch einen zweiten
imperialistischen Krieg
überleben wird, wenn die Revolution trotzt den mehrfachen Ausbrüchen der Massengehrung und Massenempörung und trotz unseren
Bemühungen aus diesem Kriege noch
nicht geboren wird.
Wir
sind Anhänger eines
Reformprogramms, das auch gegen die Opportunisten gerichtet werden muss.
Die
Opportunisten waren nur froh, wenn wir ihnen
allein den Kampf um Reformen freiließen,
uns selbst aber in ein Wolkenkuckucksheim einer „Entwaffnung" von der schlechten Wirklichkeit drücken.
Entwaffnung ist nämlich Flucht aus der schlechten
Wirklichkeit, kein Kampf gegen sie.
In so einem Programm würden wir etwa sagen:
„Die
Parole und die Anerkennung
der Vaterlandsverteidigung in dem
imperialistischen Kriege 1914-16 ist nur Korrumpierung: der Arbeiterbewegung durch eine bürgerliche
Lüge."
So
eine konkrete Antwort auf
konkrete Fragen würde theoretisch richtiger,
für das Proletariat viel nützlicher, für die Opportunisten viel unerträglicher, als Forderung der
Entwaffnung und die
Absage an „jeder“ Landesverteidigung.
Und
wir könnten hinzufügen:
„Die
Bourgeoisie aller imperialistischen Großmächte,
England, Frankreich, Deutschland, Österreich, Russland, Italien, Japan, Vereinigte Staaten, ist
so reaktionär geworden
und vom Streben zur Weitbeherrschung durchdrungen, dass jeder Krieg seitens der Bourgeoisie
dieser Länder nur reaktionär sein
kann.
Das
Proletariat soll nicht
nur gegen jeden solchen Krieg sein, sondern auch die Niederlage „seiner" Regierung in
solchen Kriegen wünschen and
zur revolutionären Erhebung benutzen, wenn eine solche Erhebung zur Verhinderung des Krieges
misslingt."
Was die Miliz betrifft, so würden wir sagen:
„Wir
sind nicht für eine bürgerliche,
sondern nur für eine proletarische Miliz.
Deshalb
keinen
Mann und keinen Groschen nicht nur für
das stehende Heer, sondern auch für die bürgerliche Miliz auch in solchen Ländern, wie die Vereinigtem
Staaten, die Schweiz, Norwegen usw., um so mehr, als wir
selbst in den freiesten republikanischen Staaten, (z. B. in der Schweiz) die fortschreitende Verpreussung der Miliz,
besonders seit 1907 und 1911, und deren Prostituierung zu Militäraufgeboten
gegen die Streiks sehen.“
Wir können fordern:
„Wahl der Offiziere durch Mannschaften, Abschaffung jeder
Militärjustiz, Gleichstellung der ausländischen Arbeiter mit den einheimischen (besonders wichtig für imperialistische
Länder, die fremde Arbeiter in steigender
Zahl, wie z. B. die Schweiz, schamlos ausbeuten und rechtlos machen).“
Weiter :
„das Recht jeder, sagen
wir, hundert Einwohner des Staates, freiwillige Vereine für Militärübung mit
freier Wahl der Instruktoren, Entschädigung derselben
auf Staatskosten zu formieren usw.“
Nur
so könnte das Proletariat
alles Militärische wirklich für sich und nicht für seine Sklavenhalter erlernen, was absolut in seinem Interesse
liegt.
Und jeder Erfolg, sei es auch nur ein Teilerfolg der revolutionären
Bewegung — z. B. Eroberung einer Stadt, eines Industrieortes, eines
Teiles der Armee — wird naturnotwendig, das hat auch die russische Revolution
bewiesen, dazu führen, dass das siegreiche Proletariat eben dieses Programm zu
verwirklichen gezwungen sein wird.
Endlich kann man natürlich den Opportunismus
mit bloßen Programmen niemals besiegen,
sondern nur mit Aktionen. Der größte
und verhängnisvollste Fehler der zusammengebrochenen II
Internationale bestand darin, dass man Worte und Taten trennte,
Heuchelei und revolutionäre Phrase (siehe
das jetzige Verhältnis von Kautsky & Cia. zum Basler
Manifest) gewissenlos förderte.
Entwaffnung
als soziale Idee, d. h. eine solche Idee, die von irgend einer sozialen Umgebung geboren und auf eine soziale Umgebung wirken kann, und nicht nur eine
persönliche Schrulle bleibt, entspringt offenbar aus den kleinlichen und ausnahmsweise „ruhigen"
Verhältnissen einiger Kleinstaaten, die abseits der blutigen Weltstraße
des Krieges liegen und weiter zu liegen hoffen.
Man
betrachte die Argumentation der norwegischen Entwaffnungsanhänger:
„Wir
sind klein, unser Heer ist klein, wir können nichts
gegen Großmächte (und darum auch nichts
gegen die gewalttätige
Einbeziehung in einen imperialistischen
Bund m i t irgendeiner Gruppe der Großmächte . . .).
Wir
wollen ruhig bleiben in unserem Winkel und Winkelpolitik treiben, wir
fordern Entwaffnung, bindende Schiedsgerichte,
„permanente" (etwa wie für Belgien?)
Neutralität usw.“
Kleinstaatliches Bei-Seite-sein-wollen,
kleinbürgerliches Streben, von
großen Weltkämpfen fernzubleiben, seine etwaige
Monopolstellung zum engherzigen Passivsein ausnützen — das ist die o b j e k t i v e gesellschaftliche
Umgebung, die
der Idee der Entwaffnung einen gewissen Erfolg und Verbreitung in einigen
Kleinstaaten sichern kann.
Natürlich
ist solches Streben illusionär und reaktionär, der
Imperialismus wird so wie so die Kleinstaaten in den Wirbel der Weltwirtschaft und der Weltpolitik einbeziehen.
Der Schweiz sind z. B. durch ihre
imperialistische Umgebung zwei Linien der Arbeiterbewegung
objektiv vorgeschrieben: die Opportunisten streben im
Bunde mit der Bourgeoisie danach,
aus der Schweiz einen republikanisch-demokratischen Verein zum Profitempfangen
von den Touristen der imperialistischen Bourgeoisie zu machen und „ruhige" Monopolstellung
recht hübsch und ruhig zu wahren. Wir wirklichen Sozialdemokraten der
Schweiz streben darnach, die relative Freiheit und die „internationale"
Lage der Schweiz dazu auszunützen, um dem
engern Bunde der revolutionären Elemente in den Arbeiterparteien Europas
zum Siege zu verhelfen.
Die Schweiz spricht, Gott sei dank, keine
„selbständige"
Sprache, sondern drei Weltsprachen, und
zwar solche, die in angrenzenden kriegführenden Staaten gesprochen werden.
Wenn 20.000 Mitglieder aus der schweizerischen
Partei zwei Rappen wöchentlich „Extrakriegssteuer"
zahlen — man würde z. B. 20.000 Fr. jährlich bekommen —, mehr als genug, um in
drei Sprachen für die Arbeiter und für die Soldaten
in kriegführenden Ländern alles das periodisch zu publizieren und. dem Verbote
der Generalstäbe zum Trotz, zu verbreiten, was die Wahrheit enthält: über die beginnende Erhebung der Arbeiter, deren
Verbrüderung in Schützengräben, deren Aussichten auf revolutionäre Waffenbenutzung gegen die
imperialistische Bourgeoisie ihrer
„eigenen" Länder usw.
Das ist nicht neu. Das wird eben durch beste Zeitungen.
„La
Sentinelle", ,,Volksrecht", Berner “Tagwacht“, schon gemacht,
nur leider in nicht genügendem Maße.
Nur durch solche Tätigkeit kann der schöne Beschluss des Aarauer
Parteitages zu etwas mehr als
schönem Beschluss gemacht werden. Und es genügt, die Frage zu stellen:
entspricht dieser Richtung der sozialdemokratischen Arbeit die „Entwaffnungsforderung“?
Offenbar nicht.
Objektiv entspricht die Entwaffnung der opportunistischen,
nationalen, beschränkt kleinstaatliche
Linie der Arbeiterbewegung.
Objektiv ist die Entwaffnung das nationalste,
das spezifisch nationale Programm der Kleinstaaten, kein internationales Programm der
internationalen revolutionären
Sozialdemokratie.
VERLAG DER SCHULE FÜR AGITATOREN UND INSTRUKTOREN
“KOMMUNISTISCHE REVOLUTIONÄRE UNIVERSITÄT J. M. SVERDLOV”
ZUR MARXISTISCH-REVOLUTIONÄREN AUSBILDUNG, ORGANISATION UND FÜHRUNG
DES PROLETARIATS UND DESSEN UNTERDRÜCKTE VERBÜNDENTEN
MOSKAU - SÃO PAULO - GENUA – PARIS
[1]Cf. LENIN, WLADIMIR ILITCH ULIANOV. Die Militärfrage der proletarischen Revolution, in : Gegen den bürgerlichen Militarismus ! Gegen den Pazifismus ! Für die Bewaffnung des Proletariats, Schriftreihe Internationale Jugendbibliothek, Nr. 17, Berlin: Verlag Jungendinternationale - Junge Garde, S. 20ff.